Tag 36

Dienstag, 16.05.2023 – Igelbälle 4 Life

Inhaltsangabe: psychische Erkrankungen (Ängste, Depressionen, Zwänge, Borderline), Klinikaufenthalte, Tabakkonsum, Essen, Schlafprobleme, Anspannung, Überforderung

(Bildbeschreibung: Foto von meinem Nachttischchen. Auf diesem ist eine Flasche Wasser, ein kleiner gelber Igelball, ein grüner grosser Igelball, eine Pflaume, eine Birne, Tattoo-Creme und ein grosses Buch zu sehen, auf dem ein kleineres Sudoku-Rätselbuch liegt.)

Gestern hat mir mein Zimmernachbar erzählt, dass er nächste Woche schon wieder abhaut und, dass der Arschlochtyp heute gehen muss. Kann nicht sagen, dass ich mich besonders darüber freue, aber leid tut mir das auch nicht. Wer weiss, wie der Ersatz wird?

6.00 Uhr Der Wecker klingelt. Und welches Lied läuft gerade? Caught out there von Kelis: „I hate you so much right now!“ Passt!

7.00 Uhr Ich bin sehr schlecht aus dem Bett gekommen. Die Nacht war auch wieder sehr unruhig und mit Albträumen bestückt. Ich sitze jetzt im Gemeinschaftsraum, schreibe meinen Tagesplan und trinke Kaffee. Als ich fertig damit bin, kommt Arschlochtyp rrin und setzt sich mir gegenüber. Ich frage ihn, wie er sich fühlt und wir quatschen ein wenig. Ich glaube, er ist nicht rechts, ist verzweifelt und hat einiges zu kompensieren. Mit unpassenden Sprüchen scheint er zudem die Aufmerksam zu bekommen, die er braucht. Das soll nichts entschuldigen, aber erklären. Ich spreche es aber auch nicht an und wünsche ihm alles Gute. Danach verpisse ich mich erst einmal in mein Zimmer. Bin froh und stolz auf mich. Das war natürlich nicht perfekt von mir, aber früher hätte ich ihm noch einige Seitenhiebe mitgegeben und wäre eklig geworden. Das hat gerade oberste Priorität. Ich werde nicht aufhören, mich gegen Diskriminierung und Gewalt generell einzusetzen, aber jetzt arbeite ich daran, dass ich es so ansprechen kann, wie ich mir mein Verhalten wünsche. Ruhig, sachlich, auf Augenhöhe (bis zu einem gewissen Grad), klar und eindeutig.

9.20 Uhr Ich hatte heute gar keine Lust auf Musik. Musik bringt mir so viel, das Musik machen kostet aber auch einiges. Heute war allerdings in den drei Runden, Xylophon, Klavier und Hang Drum, zwischendurch leicht, nicht zu denken und einfach zu machen. Das war echt super. Trotzdem fühle ich mich danach immer sehr geschafft. Bin froh, dass ich dort war und es trotzdem durchgezogen habe. Als ich auf mein Zimmer komme, gönne ich mir erst einmal eine Pause mit Schach im Bett.

11.45 Uhr Stabübung und der innere Druck steigt kontinuierlich seit Stunden an. Und mit wem darf ich das heute machen? Mit meiner Freundin, die mich am Donnerstag zum heulen gebracht hat. Uah! Eigentlich genau das Richtige. Ich muss mit ihr zurecht kommen und wer weiss, wie die Stabübung mit ihr läuft. Ich war immernoch sehr überfordert und wusste nicht so ganz, was ich machen soll, aber in der Mitte der Übung lief’s ganz gut. Glaube ich zumindest. Ich bin so froh, dass ich das jetzt hinter mir habe. Ich will’s ja weiter versuchen, aber es kostet auch immer wieder ordentlich Überwindung.

12.30 Uhr Nach dem Mittag schnell ins Bett. Ich bin echt fertig.

13.20 Uhr Ich gehe zum Pflegezimmer und frag nach, wo die medizinische Sprechstunde stattfindet. „Eigentlich hier, aber ich rufe die Frau Doktor mal an und frage nach, ob sie jetzt gerade überhaupt Zeit hat.“ Natürlich hat sie gerade keine Zeit und kommt Nachmittags auf mich zu. Also wird das nichts, weil ich nicht stundenlang auf Abruf bleibe. S. will mich am Nachmittag auch spontan besuchen und wir wollen mit Kind und Hunde eine kleine Runde durch den Wald. Gut, dann kann ich jetzt erst einmal weiterpennen. Das macht mich schon wieder fertig. Werken fällt diese Woche wegen Urlaub aus, der Feiertag kommt dazu und jetzt wird mir mein heutiger sehr voller Tagesplan wieder einmal kaputt gemacht. Dann schlafe ich halt.

14.30 Uhr Jetzt fängt Depri-Logik an. Ich quäle mich mal wieder aus dem Bett und gehe in Richtung Gemeinschaftsraum. Als ich unterwegs auf meinen Terminplan schaue, lese ich „fällt aus“. Echt jetzt? Bett!

16.00 Uhr Jetzt habe ich das Pflegegespräch. Meine Bezugspflege habe ich schon gesehen. Das wird also wohl stattfinden. Wenn nicht, könnte ich mich eigentlich ins Bett verziehen. Schon lange nicht mehr gepennt… Nein! Es findet statt. Wow! Wir gehen nochmal alles durch und schauen, ob wir etwas verändern müssen oder wollen. Alles super. Ich fühle mich gerade etwas zurückgeworfen, weil wir erst letzten Donnerstag eine neue, sehr tiefsitzende Baustelle geöffnet haben und diese Woche nicht ist, wie die letzten zuvor. Das macht mir gerade ordentlich zu schaffen, aber ich weiss ja, woher es kommt und versuche es so anzunehmen. Auch die (Ent-)Spannungskurve zeigt, dass es gerade etwas turbulent bei mir zugeht.

18.00 Uhr Vorm Spaziergang bin ich noch schnell in das kleine Lädchen und habe mir einen kleinen und einen mittleren Igelball geholt. Mal schauen, wie und wann ich diese einsetzen kann. Nach dem Spaziergang gibt’s Abendessen. Endlich ein festes Ritual, welches mir Halt und Sicherheit gibt. Fast! Meine Mitpatient*innen haben Tomate-Mozarella-Häppchen gemacht und einen Teller extra vegan gehalten. Aus Höflichkeit nehme ich mir zwei und integriere sie in mein Essen. Dabei ist mir aufgefallen, dass es gar kein Desinteresse an neuem ist, sondern auch beim Essen bei mit so bestimmte Abläufe existieren, die mir Sicherheit geben, solange sie nicht durchbrochen werden. Es gibt Abends drei Scheiben Brot und drei kleine Schälchen mit Aufstrich. Diese esse ich zuerst. Also zuerst deftig, dann das Süsse Zeugs. Dann kommt der wechselnde Salat und zum Schluss der Eiersalat. Als mir das Aufgefallen ist und der Druck schon wieder gestiegen ist, weil noch einige Häppchen übrig waren, habe ich das so kommuniziert, dass ich das gar nicht unlecker fand, aber mein Programm durchziehen möchte. Das wurde dann auch von allen verstanden und die Häppchen anderweitig verteilt. Das lief gut. Ich habe das nicht nur erkannt, ich habe es kommuniziert.

18.45 Uhr Ich sitze auf meinem Bett und denke so:“ Ach, du warst doch vorhin spazieren, dann kannste dich jetzt auch schon hinlegen.“ Boah, hau aaab! Ich ziehe das jetzt durch und mache meinen allabendlichen Spaziergang. 4 km in 42 Minuten. Geht doch. So, jetzt noch mit R. telefonieren, ab ins Bett und noch ein wenig Schachten. Oh, die ISS-App habe ich heute ganz vergessen. Einmal am Tag will ich dort reinschauen, also mache ich das noch. Gute Nacht!

Anny’s Ohrwurm des Tages:

Ashnikko – Clitoris! The Musical