Tag 32

Freitag, 12 05.2023 Ironie des winzigen Lebens

Inhaltsangabe: psychische Erkrankungen (Ängste, Depressionen, Zwänge, Borderline), Schlaganfall, Klinikaufenthalte, Tabakkonsum, Essen, trans* Feindlichkeit, Sodbrennen, Schlafprobleme, Angespanntheit, Privilegien, Rassismus

(Beitragsbild: Screenshot aus der ISS Live Now – App; links ein Fenster mit einer Karte der Erde, die anzeigt, wo sich die ISS gerade befindet; rechts ein Fenster mit einem Livebild der Erde aus Sicht der ISS)

Meine Nacht war, wie zu befürchten, sehr unruhig und ich lag um 3.00 Uhr kurzzeitig wach. Als ich da so lag, dachte ich darüber nach, ob ich den Blog, nachdem ich wieder in freier Natur bin, löschen soll. Es ist irgendwie jammern auf hohem Niveau. Eine privilegierte, weisse, männlich gelesene Person, die jederzeit stealth fliegen kann, mit privilegierten Problemen, geht an den Ungerechtigkeiten dieser Welt psychisch kaputt. Das ist doch Ironie! Schliesslich profitiere ich selbst sehr von diesen Ungerechtigkeiten. Ich werde darüber noch nachdenken und mich im Nachhinein entscheiden, ob ich den Blog lösche oder nicht. Gute Na… Äh, ne. Da stimmt etwas nicht so ganz!

7.13 Uhr Ich sitze im Gemeinschaftsraum, bin fertig mit meinem Tagesplan, habe meine Medis abgeholt, trinke Kaffe und habe die „ISS Live Now“-App auf meinem Handy wiederentdeckt. Diese kann ich allen mit Smartphone empfehlen. Es gibt bestimmt auch eine PC- oder Browser-Version. Für mich habe ich jetzt einen neuen Skill entdeckt, welchen ich jetzt in Anspannungszeiten ausprobiere. Ich liebe die Live-Bilder von der Erde und gerade die Zeitraffer-Videos sind einfach genial. Wir sind so winzig und nehmen uns so ernst.

10.15 Uhr Meine Musiktherapeutin kommt mal wieder zu spät. Es ist ihr sichtlich unangenehm, weil wir so schon gestartet sind und ich eigentlich immer auf sie warte. Ich habe mir allerdings angewöhnt, auf mich zu achten. Für mich ist’s meistens super, wenn ich pünktlich bin. Dies habe ich überwiedgend selbst in der Hand. Was andere machen, ist mir bis zu einen gewissen Punkt relativ egal. (So hätte ich das generell gerne, gerade bei Arschloch-Alarm!) Sie sagte mir, dass ich das Recht habe, sauer auf sie zu sein. Es kam mir ja auch gerade recht, allerdings war ich zu feige, das anzusprechen. Musik machen ist unglaublich befreiend und gleichzeitig sehr harte Arbeit für mich. Wenn die Stunde verkürzt wird, habe ich damit auch kein Problem. 🙂

11.00 Uhr Schnell zurück auf die Station und gucken, ob ich gleich schon in die Visite kann. Jau, eine Person ist gerade drin und dann darf ich. 5 Leutchens sind heutchens, die dich anschauen. „Sie wissen ja mittlerweile, wie’s hier läuft?!“ „Äääh, wer bist du nochmal?“ Ich kann mir Namen und oft auch Gesichter nicht gut merken. Besonders in solch stressigen Situationen. „Jau. Ich benutze fleissig die (Ent-)Spannungskurve und schaue mir in der Gefühlsliste an, welche positiven Gefühle zu der Zeit im Vordergrund liegen. Ich weiss nicht, ob die Situationen von geestern schon bei Ihnen angekommen ist?“ „Ich weiss bescheid, das besprechen wir gleich im Einzel. Passt 14.00 Uhr?“ „Ey! Wofür mache ich eigentlich meinen kack Tagesplan?“ Um zu üben… Bah!(Anm. der Redaktion: Nicht wortwörtlich aus der Erinnerung aufgeschrieben!)

14.00 Uhr Ich will nicht zu der Fremden! Ich will mit meinem Bezugstherapeuten sprechen, mit dem ich sogar schon zusammen geweint habe. Also, ich habe geheult und er konnte und wollte seine Tränen nicht verbergen. Egal. Die obergrosse Baustelle ist ausgesprochen. Jetzt kann alles hilfreich sein. Ich will offen bleiben und jede Hilfe annehmen, die ich bekommen kann. Frau B. ist sehr nett und empathisch. Sie will mir helfen und mir die Chance geben, hier im sicheren Raum zu üben. Ich hab’s befürchtet. Ich soll üben! :-O Warum ka ann sie mich nicht einfach hypnotisieren und/oder mir einen MMS-Einlauf verabreichen und alles ist super, kleiner Puper!?! AH! Weil’s fürn Arsch ist und nichts bringt. Verzeihung! Ich will mich nicht über Schwurbler*innen lustig machen und mich schon gar nicht über sie stellen. MMS ist eine Angst-Wirtschaft und sehr gefährlich! Kindern wird der Scheiss verabreicht und die Darmwand dadurch angegriffen. Das ist nicht lustig und die meisten Menschen, die auf so etwas zurückgreifen sind mit diesem komplexen Leben überfordert und haben Angst. Zurück zum Angebot! Ich werde ab jetzt versuchen, in Ich-Botschaften Scheisse anzusprechen. Davor habe ich Angst. 1. Mache ich mich noch angreifbarer und 2. habe ich Angst zu explodieren und beleidigend zu werden. Das will ich nicht. Jetzt erst einmal pennen. Das Ganze hier kostet so viel Kraft, aber ich bin auf einen guten Weg.

18.00 Uhr Freitags ist Kochgruppe. Es gibt Linsen-Mango-Curry. Lecker. Beim Essen gucke ich auf die Uhr und sage mit einem Schmunzeln zum Schalker:“Oh, wir haben 19.09 Uhr!“, und denke mir so:“ Kacke! Ich habe mich um 19.00 Uhr fürs Gespräch über die (Ent-)Spannungskurve eingetragen.“ Scheiss drauf! Die Person weiss, dass das Freitag-Abend-Essen immer später kredenzt werden kann. (Kredenzen musste ich nicht nachgoogeln. Schwör auf alles! Ausser auf Tiernahrung!) Dadurch, dass die Pflegegespräche oft eng getacktet sind, musste ich mich auf 20.00 Uhr umtragen. Kein Problem. Mein Tagesplan ist eh schon lange im Arsch! Ausserdem ist das Gespräch bei meiner Bezugspflege und die mag ich. Und, wer schreit beim Essen rum:“ Oh du hast braun gesagt! Das ist rassistisch! Hahaha!“ Warum kann ich dem nicht einfach aufs Maul hauen? Das wäre theoretisch einfacher, wenn ich dahingehend Erfahrung hätte. Ich habe das Gefühl, dass er immer lauter wird, weil niemand drauf eingeht. Jetzt, wo ich die Rückendeckung von Seiten der Klinik habe und ich unbedingt etwas an mein Verhalten ändern will, ist’s trotzdem nicht einfacher… Es muss nicht beim allerersten Mal klappen. Es muss noch nicht einmal bei dieser Person klappen. R. sagte mir am Telefon, dass derTyp die Königsdisziplin ist. Vielleicht versuch ich’s erst einmal bei jemand anderes. Draussen hätte ich in seinem Fall kein Problem, mein Maul aufzumachen und rumzumackern, aber rummackern will ich ja gar nicht mehr! Wollte ich nie. In der Tierbewegung habe ich mir damals dahingehend einen Namen gemacht. Ich bin echt froh, dass das vorbei ist. Nicht falsch verstehen. Diese Zeit hat mich geprägt und mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Ich kann jetzt mit Sicherheit sagen, dass dieses sich gegenseitige Zerfleischen innerhalb der Tierbewegung nichts für Mutters Kindchen ist.

21.00 Uhr Nach dem Spaziegang noch das Bundesliga-Spiel zwischen Köln und Herta anmachen. Was für ein Tag! Was für eine Woche. Ungefähr so, wie das Spiel. Also ungefähr. Oder auch doch ganz anders. Keine Ahnung. Kann nicht mehr denken. Gute Nacht!

PS: Danke schonmal an S04, dass ihr uns morgen zur Meisterschaft verhelft. Schade, dass ihr trotzdem absteigt. Ne! Das tut mir nicht leid! Noch nicht einmal ein klein wenig. Sorry. Ne! Auch das nehme ich wieder zurück!