Tag 14

Montag, 24.04.2023 – Spannungskurven und Spaziergänge

Inhaltsangabe: psychische Erkrankungen (Ängste, Depressionen, Zwänge, Borderline), Klinikaufenthalte, Tabakkonsum, Essen, Sodbrennen, Schlafprobleme, Anspannung / innerer Druck

Meine Nacht war wie immer unruhig, aber ich hatte kein Sodbrennen. Die Musik auf den Ohren hilft aber. Gerade ist alles wieder sehr schwierig. Heute geht mein Bettnachbar und ich weiss nicht, wer ihn ersetzt. Wäre ja cool, wenn wir hier jetzt ein Enby¹-Zimmer hier hätten oder ich zumindest ein paar Tage für mich alleine hier habe.

7.30 Uhr In der Morgenrunde werden wieder Dehnübungen auf dem Gang gemacht. Das tut mir so gut. Warum bekomme ich das alleine nicht hin? Das ist so einfach und macht wach. Zeit dafür wäre auch im „normalem“ Alltag genug vorhanden. So einfach ist’s dann wohl doch nicht.

8.00 Uhr Die meisten meiner Mitpatient*innen beschweren sich über das Essen. Überwiegend ist das Mittagessen gemeint. Ich kann’s nicht nachvollziehen. Liegt das daran, dass die zu verwöhnt sind oder ich zu anspruchslos? Oder sind die veganen Varianten einfach besser? Egal. Mir schmeckt’s und ich bin froh, dass ich nicht „nur“ trockene Nudeln oder Kartoffeln bekomme.

8.30 Uhr Werken. Gerade der von Morgens bis Mittags ist mein Terminkalender voll und es gibt wenig Verschnaufpausen. Das erhöht den Druck sofort auf mindestens 40%. Da braucht nicht viel hinzuzu kommen, damit meine Spannungskurve im roten Bereich landet. Lasse ich mich mal überraschen, wohin die Kurve gejagt wird. Ich bin auf Fall froh, dass sich das jetzt mal genauer angeschaut wird. Innerer Druck ist schon sehr lange ein zentrales Thema bei mir. Aber gut, ich habe halt einige Baustellen und es muss erst einmal ausgesiebt werden.

11.00 Uhr Frisch geht’s ins Gruppengespräch. Nach dem Werken erst einmal die freie Zeit nutzen, mich rasieren und duschen. Das habe ich im Tagesplan gestern gar nicht beachtet, dass ich das ja auch gerne mal mache. In der heutigen Gruppe gibt’s kein akutes Thema, zumindest meldet sich niemand dafür. Jetzt dürfen alle mal etwas beschreiben, was sie gerade beschäftigt. Ich habe dann mal mein momentanes Fugenproblem erläutert. Jetzt ist der Knoten geplatzt! Nicht nur, dass ich meine Kontrolle eh schon schleifen lasse und doch ein paar Fugen „perfekt“ mitnehme, jetzt weiss es auch die Gruppe. Das macht mir enorme Angst. Was ist, wenn jetzt alle Masken fallen und es mir auch äusserlich ansehbar ist, dass ich nicht auf Fugen treten kann? Der Kontrollzwang hält die anderen Zwänge in Schach. Kacke!

13.00 Uhr Das Mittagessen war wieder gut. Jetzt erst einmal eine Runde spazieren gehen. Ab heute mache ich keinen Mittagsschlaf. Wow! Was für eine Quälerei. Egal. Ich versuch’s einfach. Einen Schritt vor, keinen zurück. Im Wald nebenan 10 Minuten in die eine Richtung und dann wieder zurück. Zum ersten Mal und dann schon 20 Minuten unterwegs gewesen. Und nicht gepennt! Und das ganz ohne Ziel. Ich bin sehr stolz auf mich. Ohne Grund und/oder Anleitung kann ich nichts. Ich möchte frei sein und dann bekomme ich noch nicht einmal das hin…

17.00 Uhr Nachdem ich spazieren war, war ich so mutig und habe mich aufs Bett gesetzt oder eher halb hingelegt und habe ein paar Seiten im 100 Jahre FC St. Pauli gelesen. Sehr interessant. Jetzt wird aber die Spannungskurve angeschaut. „Ihre Anspannung ist sofort so weit oben!?!“ „Japp!“ „Okay. Das behalten wir mal im Auge.“ In den ersten zwei Wochen war sie grundsätzlich noch Höher. Ich habe mich aber mittlerweile ein wenig eingewöhnt. Jetzt erst einmal wat ins Gesicht stecken. Und zwar etwas essbares.

18.30 Uhr Stationsversammlung und hey, ich brauche mich in nächster Zeit nicht fürs Kochen melden. Sehr gut! Dafür bin ich am Freitag im Spültrupp. Das ist aber okay für mich. Und das ich mithelfe, den Mittagstisch zu decken ist auch okay. Das wird eine gute Woche.

19.30 Uhr Ich gehe noch einmel eine kleine Runde in den Wald. Frische Luft schnappen und danach kann ich dann ruhigen Gewissens pennen. Wurde auch Zeit, ey!

¹“Enby“ ist eine Abkürzung für nichtbinär und wird so geschrieben, weil es sich so anhört, als sage Mensch die englischen buchstaben N und B. „nb“ als abkürzung kommt aus der black community und bedeutet „nonblack“.