Tag 9

Mittwoch, 19.04.2023 – Kein Schlaf ist auch keine Lösung

Inhaltsangabe: psychische Erkrankungen (Ängste, Depressionen, Zwänge, Borderline), Klinikaufenthalte, Tabakkonsum, Essen, Schlafprobleme, Angespanntheit

Heute habe ich keine Ahnung, wie meine Nacht war. Ich glaube okay, aber ich fühle mich ganz und gar nicht so. Auch kann ich mich ganz schwer daran erinnern, was gestern alles so war. Ich bin total durch’n Wind. Schon ein wenig erschreckend. So etwas hatte ich nur durch Beruhigungstabletten, weswegen ich lieber ein paar rauche. Beruhigungstabletten sind der letzte Schritt für mich.

7.45 Uhr Am Ende der Morgenrunde zieht eine Person ein Kärtchen und liest dann den Spruch des Tages für alle vor. Ich höre dort immer nur mit halben Ohr zu, aber heute habe ich mit zweieinhalb Ohren zugehört:

„Optimismus Wortschatz- Wie du mit dir selbst und anderen sprichst, prägt auch dein Denken: Unsere Worte bestimmen auch unsere Wahrnehmung – und zwar ganz schön machtvoll!“

Wow! Ich befasse mich schon seit Jahren mit Gewalt in der Sprache, aber so treffend habe ich das noch nie gehört. Und dann geht’s ja hierbei auch darum, wie gewaltvoll ich mit mir umgehe. Das gibt mir jetzt nochmal eine ganz andere Sichtweise auf den Umgang mit mir selbst. Ich bin radikal politisch korrekt, ausser, wenn es um mich geht. Da bin ich noch auf der Stufe, wie vor 10 Jahren. Das ist echt erschreckend! Ich dachte, ich bin in Sachen Selbstliebe weiter.Ich dachte ja auch, dass ich schon gefistigter bin, was meinen Umgang mit meinen Depresdionen und Zwänge angeht, aber das könnte einer der Gründe sein, warum ich doch wieder in der vollstationärer Behandlung bin.

8.15 Uhr Auf dem Weg zum Werken müssen wir durch die Kinderpsychiatrie. Dieser Gang ist immer schrecklich. So viele junge Menschen. Für viele wird dies nicht der einzige Aufenthalt in einer Psychiatrie bleiben. Für viele ist das vielleicht noch nicht einmal der Anfang. Meine erste depresdive Phase muss ich zwischen meinem 8ten und 10ten Lebensjahr gehabt haben, aber würde ich mir wünschen, dies schon so früh rausgefunden zu haben? Ich weiss nicht. Vieles wäre anders gelaufen, aber dafür wäre ich jetzt nicht dort, wo ich jetzt bin. Dies können traumatische Zeiten sein und hätte ich die gern schon als Kind gehabt? Ich weiss nicht. Es ist gut und wichtig, dass Kinder diese Möglichkeit haben. Aber es ist schrecklich so junge Menschen verzweifelt mit erwachsener Begleitung traurig im Flur stehen zu sehen. Es zerreisst mir das Herz.

9.40 Uhr Auf dem Rückweg wären wir fast von vorbeistürmendem Personsl umgelaufen worden. Alle waren total hektisch. Einige von ihnen haben gelacht, andere waren total ernst und sahen erschrocken aus. Als wir in den Fahrstuhl gestiegen sind, kamen dann auch welche durch die sich schliessende Tür gesprungen. „Sie müssen raus! Sie dürfen nicht mitfahren! Ach, ist egal. Macht schnell die Tür zu!“ Und die nächsten kamen angelaufen: „Nehmt uns auch mit!“ Auf der Station angekommen auf der wir alle aussteigen mussten kamen uns einige locker entgegen. „Ist schon gut. Alles erledigt.“

Ruck Zuck macht sich ein Jugendherbergs-Gefühl breit und dann auf einmal kommt der Schlag in die Fresse. Hier ist’s toternst. Das ist kein Spielplatz oder Vergnügungspark. Das hier ist harte Arbeit und beinhaltet krasse Schicksale. Dies ist ein Krankenhaus und wir versuchen hier alle „nur“ zu (über-)leben.

10.00 Uhr Und wieder gehe ich zu meiner Bank im Kräutergarten. Heute werde ich die Augen schliessen, im Hier und Jetzt bleiben und fühlen, wo mein Körper den Boden oder die Bank berührt. Den Wind auf der Haut spüren und hören. Das zwitschern und flattern der Vögel. Das Gurren der Tauben. Die vorbeifahrenden Autos und den Wind, der durch die Bäume fegt. Heute lief es besser als gestern. Das freut mich total. Im Gespräch danach sage ich auch nochmsl, dass es so schade ist, dass mir Achtsamkeit so gut tut und mir hilft, aber, sobald es mir schlechter geht, ich ohne Hilfe nicht darauf zurückgreifen kann. Ich will dies in besseren Zeiten weiter etablieren, damit ich in schweren Zeiten auch darauf zurückgreifen kann. Ich bin auf einem guten Weg, aber dies lässt sich auch nicht so einfach angewöhnen. Ich brauche meine Zeit dafür. So, wie andere, die ihre benötigen. Ich will mir diese Zeit geben, wie ich sie meinem Gegenüber auch geben würde.

11.00 Uhr Gruppengespräch. Die Schalkerin haut heute ab. Schade, ich mag sie. Und ich freue mich sehr für sie. Diese Stunde gehört ihr.

12.30 Nach dem Mittagessen kurz ausruhen und dann geht’s um

13.00 Uhr in die Einzeltherapie. Und das bei dem Therapeuten, der sehr sympathisch ist. Ich freue mich und stehe gleichzeitig sehr unter Druck. Ich erzähle ihm davon, dass mir am Montag aufgefallen ist, dass Fugen immer mehr Druck bei mir erzeugen, ihn aber auch gleichzeitig nehmen, wenn ich sie innerhalb meines Systems treffe. Mir ist bewusst, dass die Zwänge Sicherheit erzeugen sollen, aber, was mir gerade mehr Sorgen bereitet, ist der Gedanke, dass ich mir die Fugenproblematik extra ausgesucht habe und mir diesen Druck nur mache, um mich z.B. selbst zu ärgern. Oder, um mich wichtig oder interessanter zu machen. Oder, um mir die Berechtigung zu verschaffen, hier einen Platz einzunehmen. Oder warum auch immer. Wir haben sehr viel gesprochen. Ich habe momentan so viel, was irgendwie kompensiert werden muss und dafür habe ich die „Sicherheiten“ meiner Zwänge. Alleine die neue Situation mit einer neuen Klinik. Neuen Menschen. Neuen Zeiten. Neuen Aufgaben. Das muss alles irgendwo hin.

14.30 Uhr R. und ich können unseren neuen Mietvertrag abholen. Ich trage mich aus und nehme mir die drei Stunden Zeit, die mir täglich zur Verfügung stehen. Was für ein Tag. Ich konnte heute kein Schläfchen halten und hatte einen Termin nach dem anderen. Dafür haben wir im Anschluss noch gemütlich Döner gegessen.

18.00 Uhr Abendessen. Im Anschluss setze ich mich noch mit den 3 anderen aus unserer Kochgruppe zusammen und planen den Freitag. Ich habe da so keinen Bock drauf. Auch, wenn das Essen zufällig schon vegan ist. Was soll’s.

20.40 Uhr Heute habe ich es nicht geschafft, ein wenig etwas für den heutigen Blogeintrag vorzuschreiben, aber ich bin jetzt fertig, veröffentlich ihn, hau mir Musik auf die Ohren und schlafe dann gleich. Gute Nacht! :-*